Die Geschichte der Maria Gliem, geb. Kahla, aus Frauenwaldau

 

 

Meine Geschichte (1935 - 1948)

Kapitel 1   

  

 Am 18.03.1935 wurde ich als erstes Kind von August Kahla. geb. am 12. 08. 1909 und Martha Kahla, geb. Latoschinski, geb. am 23. 05. 1911, verheiratet seit 07.11.1933, geboren. Mein Vater entstammt einer Bauern und Handwerkerfamilie. Sein Großvater war Maurer und Kirchenbauer, sein Vater war Maurer. Meinen Großvater väterlicherseits kannte ich nicht, er starb kurz nach meiner Geburt.

Mein Vater hatte vier Brüder und vier Schwestern. Zwei Brüder sind im ersten Weltkrieg gefallen. Er stammte aus Johannisdorf  (Jannislavice). Seine lebenden Geschwister hießen, Hedwig, Sophie, Johann, Marie, Josef, Apolonia und er hieß August.                                                                         

Meine Mutter Martha stammt aus einer Bauernfamilie aus Frauenwaldau (Bukowice). Meine Großmutter mütterlicherseits starb 1935. Meine Mutter hatte zwei Stiefschwestern, Marie und Anna, und  zwei  Brüder, die im Kindesalter starben, eine leibliche Schwester, Agnes, und zwei leibliche Brüder, die ebenfalls im Kindesalter starben. Als im ersten Weltkrieg die polnische Grenze weiter Richtung Westen nach Deutschland verschoben wurde, fiel Johannisdorf zu Polen. Mein Vater und seine Schwester Hedwig  gingen für immer zu den Großeltern nach Glashütte. Das Dorf lag nur 1 km von seinem Elternhaus entfernt, aber in Deutschland. Wenn er auf dem Feld war, konnte er über die Grenze, die zwischen den Dörfern verlief, seine Eltern sehen. Bis zur Heirat seiner Schwester Hedwig mit Josef Sowa aus Frauenwaldau lebte er bei den Großeltern in Glashütte.    

Stammbaum

Meine Verwandten mütterlicherseits:

Heinrich Latoschinski, verstorben 1946, verheiratet mit

Anna, geb. Obiglo, verstorben 1935

Kinder: Maria und Anna aus erster Ehe, Agnes und Martha aus zweiter Ehe                              

  Maria: Nonne im Kloster Trebnitz, verstorben 1947 in Augsburg                                            

  Anna: verheiratet mit Bernhard Stoppock

                        ein Sohn Josef, geb. am 24.01.1947

  Bernhard 1973 in Halle verstorben,

  Anna in Bad Langensalza im Altersheim 1990 verstorben, in Halle beerdigt                                                                           

              Agnes, geb. am 28.04.1909 in Frauenwaldau, ledig,

 1989 im Altersheim in Rotenburg verstorben

 Martha geb. am 23.05.1911 in Frauenwaldau, verheiratet mit

 August Kahla, fünf Kinder

                        Maria, Susanna, Barbara, Alois und Johannes  

 

Meine Verwandten väterlicherseits:               

Johann Kahla, verstorben 1935, verheiratet mit

Anna, geb. Janetzki,  1946 im Sudetenland verstorben.

Kinder: Zwei Söhne im ersten Weltkrieg gefallen                                                                                                                                

  Johann, verheiratet, keine Kinder                                                                                                                        

  Josef, verheiratet. fünf Kinder

Ceslaus, Josef, Stanislaus, Marian und Franz

  Hedwig, verheiratet mit Josef Sowa drei Kinder

Franz und Josef, Stiefsöhne, Lenchen, adoptiert

              Marie, verheiratet, keine Kinder

  Sofia, verheiratet mit Franz Sarembe, zwei Kinder

Alfons und Hildegard

  Apolonia, ledig, verstorben im Sudetenland

  August, verheiratet mit Martha Latoschinski, fünf Kinder

 

Martha geb. am 23.05.1911 in Frauenwaldau, verheiratet mit

August Kahla, fünf Kinder

             Maria, geb. am 18.03.1935 in Frauenwaldau

             Susanna, geb. am 19.02.1937 in Frauenwaldau

             Barbara, geb. am 11.01.1939 in Frauenwaldau

             Alois, geb.  am 14.01. 1943 in Frauenwaldau

            Johannes, geb. am 21.12.1944 in Frauenwaldau, 1945 in Kreibau verstorben.  

 

Kapitel 2

Als Hedwig nach Frauenwaldau, heute Bukowice, ging, nahm sie meinen Vater als billige Arbeitskraft mit. Er arbeitete bei ihr auf dem Bauernhof. Später holte sie ihre Mutter und Schwester Apolonia auch nach Deutschland und auch sie mussten bei ihr arbeiten. Allen hat sie Pfennigsbeträge gezahlt. Meine Eltern haben mir einmal erzählt, sie wollten auf ein Fest im Dorf gehen, da gab Hedwig Vater 50 Pfennig und der Mutter 30 Pfennig. Da sind sie gar nicht erst auf das Fest gegangen, denn dafür gab es nicht mal 2 Getränke. Als Susi geboren wurde, hat sie sich um die Patenschaft gerissen und der Susi tausend Geschenke versprochen, wenn sie größer ist. Nichts hat sie jemals bekommen.

Hedwig war in der NSDAP, war bei allen sehr beliebt, denn sie war großzügig, aber nur, wenn es rentabel für sie war. Gekocht wurde in zwei Küchen, oben für  die Gäste, unten für alle, die für sie arbeiteten, einschließlich ihrer Verwandten. Bei ihr hat Gott und die Welt verkehrt. Wenn zum Beispiel Herren von der Wehrmacht kamen, wurden sie von ihr bewirtet, und ich wurde fein gemacht und musste Gedichte aufsagen, damit sie vor ihren Gästen glänzen konnte.

Bei ihr wurde eine ganze Kompanie einquartiert, und das sicher nicht umsonst. Als in unser Dorf BDM und HJ kam, wurden bei ihr die Brote geschmiert, und zwar auf der kleinen Seite der Schnitten. Da blieb ganz schön Butter übrig, denn jeden Tag waren das zirka 1000 Schnitten. Ehe mein Vater zur Wehrmacht eingezogen wurde, sorgte Mutters Vater dafür, dass mein Vater den Bauernhof neben seinem eigenen pachten konnte. Opa wollte ihn ja kaufen, aber der Besitzer wollte damit bis nach dem Krieg warten. Ich hatte dadurch einen längeren Schulweg, aber die Nähe zu Opa und Tanten war viel schöner, als die Schule um die Ecke. Für Mutter war das ja auch viel einfacher. So wurden wir von Opa und den Tanten mit erzogen, als Vater im Krieg war.

Für uns Kinder war das eine herrliche Zeit, denn Opa war ein wunderbarer Mensch, ich habe sehr viel von ihm gelernt. Bei ihm am Hof war alles sehr ordentlich und er war immer am arbeiten. Er hatte auch Bienenvölker. Wenn er auf dem Feld war und eine Biene flog ihm um den Kopf herum ist er sofort los, denn da wusste er die Bienen schwärmen. Zum Geburtstag bekam ich immer ein paar Lackschuhe und einen Taler. Seit wir bei ihm in der Nähe wohnten, war er drei mal an Lungenentzündung erkrankt, er hat sich aber jedes mal wieder erholt.

Später übergab er seinen Bauernhof an Tante Anna und Onkel Bernhardt, der aber tagsüber noch im Sägewerk arbeitete. So blieb die meiste landwirtschaftliche Arbeit doch an ihm und seinen drei Töchtern hängen. Im Herbst haben die Kinder aus dem Unterdorf auf den Wiesen meiner Tante Hedwig Kühe gehütet. Nach der Schule zogen immer sechs bis acht Kinder mit jeweils zwei Kühen an der Leine auf die etwa 1 km entfernten Wiesen los. Der Ranzen wurde mit genommen, denn die Hausaufgaben haben wir da draußen gemacht. Danach konnten wir den ganzen Nachmittag spielen denn die Kühe konnten nicht abhauen.

Wenn es 18.00 Uhr läutete, zogen wir wieder heim. Das war für uns die schönste Zeit, da wir sonst auch mithelfen mussten. Jeden Sonntag Nachmittag hat Opa die Kühe selbst auf den Feldwegen gehütet, damit das Gras nicht zerfahren wurde, wenn die Bauern aufs Feld fuhren. Wenn er mal ein paar Minuten Zeit hatte, legte er sich bäuchlings auf die Bank und ich musste ihm Läuse suchen. Für jede Laus sollte ich eine Mark bekommen, aber ich habe nie eine erhalten, denn er hatte keine Läuse. Er empfand es einfach angenehm, wenn ich ihm auf dem Kopf  rumkraulte. Ich war sein Liebling, da ich ihm immer viele Fragen stellte und so habe ich eine Menge von ihm gelernt. Er war ein sehr kluger und liebenswerter Mensch.

Kapitel 3

Am heiligen Abend 1944 begann für unsere Familie die schwerste und schlimmste Zeit meiner Kindheit. Mein kleiner Bruder Hansel war erst ein paar Tage alt. Mein Vater seit dem Sommer vermisst und es war Weihnachten. Unsere Nachbarin, Frau Natbyl, kam nach der Bescherung zu uns rüber und blieb bis 23 Uhr. In der Zwischenzeit waren wir Kinder noch mal draußen um nachzusehen, ob das Heu und die Mohnklöße, die wir dem Christkind hingestellt hatten, verschwunden waren. Danach hatten wir vergessen die Haustür zu verriegeln. Als unsere Nachbarin nach hause ging, sagte sie zu uns: „Ihr seit aber leichtsinnig, und wenn jetzt Partisanen rein gekommen wären, hätten sie uns alle umbringen können.“

Ich wusste was Partisanen sind. Im ersten Moment brachte ich kein Wort heraus, aber dann fing ich an zu zittern und zu schreien, man konnte mich gar nicht beruhigen. Mutter musste noch in der Nacht das ganze Haus absuchen und jede Ecke ausleuchten, bis ich mich endlich etwas beruhigt hatte und wir gegen 2.00 Uhr zu Bett gehen konnten. In dieser Nacht habe ich nicht geschlafen, nur auf Geräusche gehorcht. Von dieser Stunde an blieb ich nicht mehr allein im Haus, egal wohin meine Mutter ging, ich war bei ihr. Diese Wahnsinnsangst hat mich nicht mehr ver-lassen, bis wir am 20.01.45 flüchten mussten.

Wir hörten schon die Schüsse von der Front in unserem Dorf. Unsere Tante Hedwig, die in der Führung in der NSDAP war, sagte uns, wir würden von einem Auto abgeholt, da wir fünf Kinder sind und Hansel erst ein paar Wochen alt war. Wir selbst hatten keine Pferde, aber Tante Hedwig ist mit zwei Wagen und vier Pferden los, nahm noch Bekannte mit, aber uns ließ sie zurück. Es kam kein Auto und wir waren ganz verzweifelt, denn die Front kam immer näher. Mein Opa, Tante Anna, Onkel Bernhardt und Tante Agnes, die ja nebenan wohnten, warteten bis zuletzt mit uns, ob wir abgeholt werden. Sie hatten aber nur ein Pferd und ihr Wagen war nur klein. Opa sträubte sich bis zuletzt das Haus und das Vieh zu verlassen, er musste mit Gewalt mitgenommen werden. Onkel Bernhardt packte unser bisschen Gepäck auch noch auf den Wagen und so zogen wir los. Mutter und Tante Agnes mit je einem Kinderwagen und wir drei Mädels zu Fuß. Wir kamen nur zwei Kilometer bis zur Kirche, da war die Straße verstopft und so sind wir am Abend wieder zurück. Die Nacht war furchtbar. Das Vieh wurde noch mal mit viel Futter versorgt und das Schießen an der Front wurde immer lauter, an Schlaf war nicht zu denken. Von jedem Tier wurde noch mal Abschied genommen. Am Sonntag, den 21.01.45, gingen wir das zweite Mal los in der Hoffnung, bald wieder hier zu sein. Es war bitterkalt, die Milch gefror in den Kannen. Nun ging es in Richtung Trebnitz (Trzebnice), etwa 30 km zu Fuß. Kurz vor Trebnitz trennten wir uns von Tante Anna und Onkel Bernhardt. Sie fuhren mit dem Wagen weiter und wir sollten uns bei der NSV (NS-Volkswohlfahrt) melden, die waren aber schon geflüchtet. Unser Hansel war schon ganz blau vor Kälte, die Wangen erfroren und Händchen ganz dick. Das Kind einer Bekannten war schon erfroren, ehe wir Trebnitz erreichten. Es wurde am Straßenrand in einer Schneewehe begraben. Wir gingen dann auf eigene Faust zum Bahnhof und hatten Glück.

Dort konnten wir im Warmen übernachten. Tante Agnes, Opa und unser Neffe Josef waren bei uns geblieben. Am nächsten Tag um 16 Uhr konnten wir glücklicherweise noch einen Zug erreichen und um 19:30 Uhr fuhr er ab. Kälte und Durst plagten uns sehr, der Zug war nicht beheizt, es gab nichts zu trinken und keiner wusste wohin wir fuhren.

Anderntags um 9.00 Uhr waren wir in der Kleinstadt Jauer (Jawor). Tante Agnes und ich wollten etwas zu essen und zu trinken besorgen, aber es war nichts zu finden. Dabei trafen wir ein paar Frauen aus unserem Dorf, da flossen wieder die Tränen. In Jauer kamen wir  in ein Lager und wurden endlich mal wieder verpflegt. Da bekam ich von einer Betreuerin ein Buch geschenkt, über das ich mich sehr gefreut habe. Noch heute ist mir der Inhalt des Buches im Gedächtnis.

Das Lager in Jauer war total überfüllt. So wurden wir mit LKWs in das Städtchen Bolkenhain (Bolkow) gebracht und kamen wieder in ein Lager, in dem wir erstmals mit drei Mahlzeiten versorgt wurden.

Am 24.01.45 konnten wir mal zur Kirche gehen, das hat uns sehr geholfen. Josef wurde an diesem Tag 8 Jahre alt. Er bekam Äpfel, Bonbons und Kekse. Bis zum 28.01.45 blieben wir im Lager und wurden auch verpflegt. Wärme und Verpflegung war in dieser Zeit für uns das Allerwichtigste. Am 26.01.45 ging Tante Agnes auf die Suche nach Tante Anna, irgendwo hatte jemand Pferdewagen aus Frauenwaldau gesehen, ihr Sohn Josef war noch bei uns. Am 27.01.45 kam sie nachts um 3.00 Uhr total durchnässt, durchgefroren und ohne Erfolg zurück. Es schneite immerfort und war eisig kalt.

Am 28.01.45 wurden viele Leute aus dem Lager in Wohnungen eingewiesen, deren Inhaber schon geflohen waren. Wir bekamen zwei Zimmer und eine Küche in einem Arzthaushalt zugewiesen, deren Bewohner aber schon weg waren. Es war sehr schön warm, denn die Heizung funktionierte noch. Am 04.02.45 kam Onkel Bernhardt den Josef holen, irgendwie hat er uns gefunden. Zu der Zeit wurde jedem Bekannten erzählt, wer wen wann gesehen hat und so haben viele Leute ihre Angehören wieder gefunden. In Bolkenhain konnten wir sogar Schlitten fahren, denn im Keller stand noch einer. Wir konnten mal wieder Kinder sein. Doch wir haben auch etwas sehr schlimmes erlebt. Nachts gegen 2.00 Uhr wurden wir von einem merkwürdigen Geräusch geweckt. Wir konnten aber nicht feststellen, was es war und sehen konnte man auch nichts. Am Tag sind wir dem Geräusch nachgegangen und kamen an die Hauptstraße. Da bot sich uns ein furchtbares Bild. Russische Gefangene wurden in Achterreihen wie Vieh in Richtung Westen getrieben. Sie waren teilweise nur in Decken gehüllt, manche hatten nur noch Lumpen an den Füssen. Ein paar hatten Brot unter der Decke versteckt und aßen heimlich davon. Ein paar Leute wollten den Russen Wasser geben, wurden aber sofort von den Wachposten weggejagt. Ich weiß nicht wie lange diese Menschen schon unterwegs waren, aber viele konnten wohl nicht mehr und fielen einfach hin. Sie wurden sofort erschossen und wurden liegen gelassen. Da kam Opa und hat uns weggeholt, denn wir standen wie erstarrt vor Entsetzten. Bis in die späte Nacht hörten wir die Schüsse von der Straße. Viele tausend Mensche müssen das gewesen sein. Anderntags wurden die Toten auf Lastwagen geworfen und weggebracht.

Am 09.02.45 bekamen wir die Nachricht, dass wir wieder weiter müssen, so gern wir auch in Bolkenhain geblieben wären. Hier gab es zum erstmal richtige Kaffeebohnen auf Marken seit Anfang des Krieges, wenn auch nur 10 Stück pro Person und zwar grüne, aber es war Kaffee. So zogen wir am Nachmittag zum Bahnhof, Stunde um Stunde verging, aber es kam kein Zug. Um 21.00 Uhr ging unsere Mutter mit uns Kindern und Opa wieder in die Wohnung zurück, Tante Agnes blieb mit dem Gepäck am Bahnhof zurück. Am anderen Morgen musste der Bahnhof geräumt werden. Tante Agnes hat das Gepäck irgendwo untergestellt und kam auch zurück. Als wir am Sonntag aus der Kirche kamen wurde uns gesagt, es geht mit LKWs weiter, alles bereithalten. Wir haben schnell etwas gegessen und sind zu unserem Gepäck gegangen. Das war schon auf einem LKW als wir ankamen. Es fiel uns sehr schwer, diesen Ort zu verlassen, denn niemand wusste, wohin es geht. Wir fuhren mit dem Lkw in der eisigen Kälte bis nach Hirschberg (Jelenienia Góra), unterwegs sahen wir viele Tote und viel Elend am Straßenrand.

Am Bahnhof mussten wir alle absteigen und gingen in den total überfüllten Wartesaal. Wir mussten uns erst mal eine Ecke suchen, in der wir zusammen bleiben konnten. In Hirschberg gab es Reissuppe. Wir hatten eine 4 ltr. Kanne, in der holten wir immer Essen, wenn es etwas gab. Ich hatte solchen Hunger und bin noch mal mit der Kanne los, als wir gegessen hatten. Fast 2 ltr. Suppe konnte ich noch ergattern. Damit habe ich mich draußen hingesetzt und habe alles ausgetrunken. Als ich zu den anderen zurückkam, war ich fast bewusstlos. Man hat mich auf einen Tisch gelegt und wie mir meine Mutter erzählt hat, etwa zwei Stunden den Bauch massiert bis ich wieder richtig geatmet habe. Aber die Suppe blieb drin. Ich hatte das Gefühl bis unter die Zimmerdecke zu schweben und wieder zurück auf den Tisch. Alle hatten Angst, mir platzt der Magen. Um 5.00 Uhr hieß es wieder fertigmachen, es geht weiter. Einige Bekannte halfen uns in den überfüllten Zug  und blieben dadurch selbst zurück. Wir waren ja 8 Personen. Ein Koffer ging dabei leider verloren. Diesmal ging es nach Reichenberg (Liberec).

In Reichenberg gingen Tante Agnes und ich los, für Mutter und die Kleinen etwas zu essen und zu trinken besorgen, aber es gab nichts. Wir wurden in einer Schule untergebracht. Gegen 6.00 Uhr wurde uns wieder mal gesagt, alles zusammenpacken, es geht weiter. Wir nahmen an, es geht wieder zurück, aber in dieser Nacht verloren wir alle Hoffnung auf eine baldige Heimkehr.

Um 10.00 Uhr gab es halbrohe Kartoffelsuppe ohne Salz. Wir sollten noch unsere Lebensmittelkarten abgeben um Brot zu bekommen. Da es doch nichts Essbares gab, behielten wir einfach unsere Karten und das war gut so. Tante Agnes und ich gingen weit in die Stadt, am Bahnhof waren alle Geschäfte schon geplündert. Doch wir bekamen  Brot auf Marken. Um 13 Uhr kamen wir völlig kaputt zurück und gleich darauf fuhr der Zug ab. Das war immer unsere Sorge, wir kommen zurück und der Zug ist weg.

Der Zug fuhr und keiner wusste wohin, aber in 17 Stunden sollten wir am Ziel sein. Am nächsten Morgen bekam jeder anderthalb Schnitten Brot und ein Becher Wasser. Unser Abteil hatte 30 Sitzplätze wir waren aber 49 Personen darin. Der Zug fuhr immer nur kurze Strecken, entweder waren die Schienen beschädigt oder wir wurden von Tieffliegern beschossen. Wir hatten sehr viel Glück und wurden nicht getroffen der Herrgott hat uns beschützt. Zwischen Dux und Brüx waren die Felder total mit Stanniolpapier übersät. Vor einem Angriff konnte unser Zug gerade noch in einen Tunnel fahren, aber die letzten 2 Wagen wurden beschossen und die Wagen sind ausgebrannt, alle Menschen sind verbrannt. Sechs mal wurden wir in diesem Zug angegriffen. Hansel konnte kaum noch gestillt werden, da wir nichts zu trinken hatten. Das Geschrei der Kinder war fürchterlich und die Mütter hatten nichts zu essen oder zu trinken für sie. Ein alter Mann ging nachts heimlich Wasser holen, obwohl es verboten war, den Zug zu verlassen. Eine Frau gab uns 2 Kerzen, die stellten wir auf den Fußboden und so konnten wir etwas Tee kochen. Eine andere gab uns zwei Zwieback und so bekam Hansel endlich mal wieder eine Flasche zu trinken. Alois, der kleine Kerl, musste zusehen. Am 16.02.45, nach 70 Stunden in dem überfüllten Zug, durften wir in Merkelsgrün (Merklin) im Sudetenland endlich aussteigen. Unsere ersten Gedanken waren: Bis hier her schaffen es Tante Anna und Onkel Bernhardt mit dem Pferdewagen niemals.

Kapitel 4

In Merkelsgrün (Merklin) bekamen wir erst mal ein warmes Mittagsessen und vor allem etwas zu trinken. Zuvor haben wir uns erst mal gründlich waschen müssen, wir waren furchtbar verdreckt und schwarz wie die Neger. Es gab Suppe, Brot, Kaffee und auch gleich Abendbrot. Wir hatten es seit Tagen wieder warm, waren satt und total erschöpft, aber auch froh. Die erste Nacht schliefen wir in der Schule. Diese Stille war so unwirklich, keine Schreie, keine Schüsse, keine Flieger und keine Militärfahrzeuge. Anderntags wurde uns klar, warum es hier so still war. Merkelsgrün war für uns wahrhaftig ein böhmisches Dorf. Es waren 56 Häuser in einem kleinen Tal zwischen hohen Bergen. Frauenwaldau lag im Flachland und hier sahen wir zum ersten mal richtige Berge. Das Dorf war nur durch eine enge Schlucht, die nur ein reißender Bach, eine eingleisige Bahnschiene und die Strasse führte, zu erreichen. Die Bahn endete hier, die Strasse ging hinter dem Dorf über einen hohen Berg weiter. Wir sahen sofort, Tiefflieger können uns hier nichts mehr anhaben.

Tags darauf bekamen wir eine Unterkunft, das war vorher die „Hilfsstelle für Mutter und Kind“. Auf der Fahrt ging es unserem Opa sehr schlecht, er lag anschließend lange Zeit im Bett. Auch Alois wurde krank, obwohl er jederzeit schlafen konnte, wir hatten ja zwei Kinderwagen mit. Am 18.02.45 suchten wir erst mal nach der Kirche. Es waren 3 km zu Fuß bis in die Stadt Liechtenstein. Als wir in der Kirche saßen, fühlten wir uns fast wieder gut. Susi wurde am 19.02.45 acht Jahre alt, aber ihr Geburtstag war noch trostloser als bei Josef, obwohl hier gut für uns gesorgt wurde. Nachdem wir wieder eine Bleibe hatten, merkten wir, das uns einfach alles fehlt. Teller, Messer und Gabeln gaben uns liebe Nachbarn, zum Kochen und Waschen mussten wir das Wasser in der Nachbarschaft holen, und zwar in einem Topf, denn einen Eimer hatten wir nicht. Aus Mangel an einer Schüssel wurde uns im Hof Wasser über die Hände geschüttet, damit wir uns waschen konnten. In diesem Haus wohnten auch Oma Piekenhahn mit ihrem erblindeten Mann. Sie waren beide über 70 Jahre alt, aber sie halfen  uns mit dem Allernotwendigsten aus, denn es gab ja nichts zu kaufen.

Opas Krankheit verschlimmerte sich. Er hatte großes Heimweh und wollte immer zu Fuß zurück gehen. Am 15.03.45 dachten wir er stirbt und er bekam das Sterbesakrament. Einige Tage später, als es Opa etwas besser ging, gingen Tante Agnes und ich in die Nachbardörfer, um Tante Anna zu finden. Ein paar Bekannte haben wir auch getroffen, nur Tante Anna nicht. Wir sind morgens um 8.00 Uhr in der Früh los und waren nachts um 24.00 Uhr zurück. Es war ein schöner Ausflug, aber wir hatten kein Gefühl mehr in den Beinen, denn wir waren die Berge nicht gewohnt. Viele Wege sind wir gegangen, durch Dörfer und Städte, aber keine Spur von Tante Anna. Am 18.03.45 war mein Geburtstag. Ein netter alter Herr aus der Nachbarschaft hatte einen großen lenkbaren Schlitten, auf dem 6 Personen Platz hatten. Er hat uns Kinder eingeladen und wir fuhren etwa 2 km bis nach Lichtenstadt, denn es ging ja immer bergab. Zurück mussten wir den Schlitten ziehen, aber es war wunderschön. In Merkelsgrün gingen Susi und ich auch wieder zur Schule, sie war einklassig, aber ganz gut. Am 21.03.45 machten wir uns wieder auf die Suche nach Tante Anna, diesmal nach Ullersgrün. Der Weg war nur eine Stunde, aber über einen hohen Berg. Dort erzählten uns Leute, eine Frau Stoppock sei verstorben. Es war aber nicht Tante Anna, wie wir später erfuhren.

Anfang April erhielten wir Post von Tante Gotschling, sie wohnte in Braunschweig und wir hatten ihr mitgeteilt, wo wir zur Zeit waren. Am 04.04.45 schrieb uns Tante Anna, sie hatte von Tante Gotschling unsere Anschrift erfahren. Da war die Freude groß. Am 08.04.45 fuhren Tante Agnes und ich zu ihnen nach Wartenberg. Um 3.45 Uhr fuhr unser Zug ab, nach 12 Stunden Fahrt und 2 Stunden Fußmarsch waren wir endlich da. Die Freude war riesig, aber zugleich waren wir alle sehr traurig. Wir packten von unseren Sachen, die noch auf dem Pferdewagen waren, soviel zusammen, wie wir tragen konnten. Am 07.04.45 fuhr uns Onkel Bernhardt mit dem Pferdewagen zum Bahnhof. Unser Zug fuhr um 8.30 Uhr ab um 23.00 Uhr waren wir wieder in Merkelsgrün. Dies war der letzte Zug, der in das Dorf fuhr und auch wieder zurück, denn es war ein Sackbahnhof. Tags darauf wurden fünf Lazarettzüge auf dem Bahnhof abgestellt und blieben da bis Kriegsende, da sie dort nicht von Tieffliegern beschossen werden konnten. Immer wieder hieß es, das Dorf muss geräumt werden, aber vorerst geschah nichts.

Am 17.04.45 musste ich zum Ohrenarzt nach Liechtenstein. Zuvor gingen wir noch in die Kirche zur Messe. Als wir aus der Kirche wollten, kamen wieder Tiefflieger und schossen auf uns. Die zwei Soldaten, die uns in die Kirche zurückdrängten bekamen Bauchschüsse, sie wurden zwar gleich in der Praxis des Ohrenarztes versorgt, aber sind leider kurz darauf verstorben. Soviel Flugzeuge wie an diesem Tag haben wir noch nie gesehen, es waren sicher 2000. Auf dem Heimweg nach Merkelsgrün sahen wir viele Partisanen, alle schwer bewaffnet, in den Wäldern der Strasse entlang. Wir hatten eine Heidenangst, aber wir mussten daran vorbei. Sie taten uns nichts, aber sie wollten von uns wissen, wie viele Soldaten in der Stadt sind. Nach ein paar Tagen war der Spuk vorbei und wir sind mit ein paar Frauen nach Karlsbad gefahren. Es war ein guter Tag in dieser schönen Stadt. In den nächsten Tagen war Tante Agnes und ich oft unterwegs, so auch in die Wallfahrtskirche Mariasorg. Die ganzen Wände der Kirche und der Innengang des angrenzenden Klosters waren mit Danksagungen für erhörte Bitten bedeckt.

Anfang Mai war plötzlich das Dorf voller Soldaten. Wir Kinder hatten uns angewöhnt, jeden Soldaten genau anzusehen, es konnte ja sein, wir treffen unseren Vater. Im Dorf war jeder freie Raum mit Soldaten belegt, ob Scheune oder Stall. Am 10.05.45 sagte der Lehrer einen Satz, der mir bis heute in meinem Gedächtnis geblieben ist. „Dieser grausame Krieg ist zu Ende, wir müssen nie mehr Heil Hitler sagen, ab jetzt sagen wir wieder: Grüß Gott.“

Die Soldaten warfen Berge von Waffen und Munition in den Fluß und verschwanden nach und nach. Wer von den verwundeten Soldaten laufen konnte, verließ das Dorf zu Fuß. Schwerverletzte wurden auf LKWs verladen und weggebracht. Bei den Bewohnern herrschte große Angst vor den Tschechen. Fürchterliche Grausamkeiten wurden erzählt. Die verwundeten Soldaten verteilten noch die restlichen Lebensmittel und Schokolade an die herumstehenden Kinder und verschwanden. Am 21.05.45 kamen die Tschechen und es hieß wieder mal für uns alles einpacken, es geht zurück in die Heimat. Tags darauf brachten uns die Bauern mit Pferdewagen nach Schlackenwehrt zum Bahnhof. Wir waren über 80 Personen.

Kapitel 5

In Schlackenwerth (Ostrov) wurden wir mit 85 Personen in einen offenen Viehwaggon verladen, mit dem ganzen Gepäck, was jeder tragen konnte, alles andere musste zurück bleiben. Es war ein sehr langer Zug. An Verpflegung hatten wir nur das mitnehmen können, was wir im Haus hatten. An Mutters Geburtstag stand der Zug auf offener Strecke, es regnete und war bitterkalt. Die Waggons waren verriegelt und wir durften auch nicht raus und zu essen und zu trinken bekamen wir auch nichts. Wenn der Zug hielt, kletterten wir aber trotzdem raus und kochten schnell ein paar Kartoffeln, wenn wir welche hatten. Oft waren sie noch halb roh wenn der Zug weiter fuhr, aber sie wurden gegessen. Manchmal hielt der Zug auch auf einem Bahnhof, da suchten wir Kinder sofort nach etwas Essbaren. Stand mal ein Güterzug mit Kartoffeln auf dem Bahnhof, holten wir Kinder soviel wir tragen konnten. Einmal lag ich noch unter einem Zug, unter dem wir durchgekrochen waren, als er anfuhr. Ich habe fürchterlich geschrieen, bin aber still liegen geblieben und mir ist nichts passiert. Wasser  hatten wir nur, wenn der Zug auf einem Bahnhof hielt und die Lock  aufgefüllt wurde .Da hielten wir schnell unsere Kannen darunter. Wenn der Zug auf freier Strecke hielt holten wir Wasser  aus dem nächsten Graben. Wir saßen und schliefen jeder auf seinem Gepäck. Unser Nachttopf war für 85 Leute die einzige Möglichkeit, bis ein paar Jungen ein Loch in den Fußboden brechen konnten. Nach ein paar Tagen hatten plötzlich alle Leute Läuse. Meiner Mutter und Hansel ging es gesundheitlich sehr schlecht, wir hatten große Angst, sie würden sterben. Tante Agnes fühlte jede Nacht, ob wir noch alle am Leben sind. Wir versuchten auf Kerzen eine Suppe zu kochen. Ein paar Nudeln hatten wir noch, etwas Griebenfett wurde von einer Frau erbettelt, aber oft fehlte sogar das Wasser. Hielt der Zug auf einem Bahnhof rannten alle Kinder sofort nach Wasser, dass nur noch aus den Pumpen zum Auffüllen der Loks lief, alles andere war zerstört. Für die alten Leute war es besonders schlimm, sie mussten die ganzen Wochen sitzen, sie konnten ja nicht wie wir oben überhin klettern. Sie hatten ganz dicke Füße.

In Dresden standen wir ein paar Tage auf dem völlig zerstörten Bahnhof. Tante Agnes wusch sich die Hände in Wasser, das aus den Trümmern lief. Kurz darauf hatte sie einen ganz dicken Finger, der sich schnell dunkelgrau färbte. Es war wohl Wasser, das über Leichen lief. Ihr war schlecht vor Schmerzen und sie wurde bewusstlos. Tags darauf kam ein Mann den Zug entlang. Er blieb an jedem Waggon stehen und sagte: „Ich bin Arzt, aber ich bin Jude. Kann ich helfen?“ Er streute Tante Agnes ein Pulver auf den Finger und kurze Zeit später platzte der Finger auf. Es stank fürchterlich, was da raus lief, aber Tante Agnes erholte sich wieder und wir waren alle sehr froh darüber.

Die Fahrt ging weiter nach Cottbus. Dort hieß es, auf Marken gibt es noch Brot zu kaufen. Ich bin sofort allein los und habe auch zwei Brote erhalten. Als ich zurück kam, ergriff mich die Panik. 20 lange Züge standen auf dem Bahnhof und in welchen gehörte ich. Nach ewig langem Suchen fand ich endlich den richtigen Zug und Waggon wieder und 5 Minuten später fuhr der Zug ab. Da glaubt man doch an Gottes  Fügung. Die Fahrt ging weiter über Sagan nach Liegnitz (Legnica).

16 Tage waren wir in diesem Waggon unterwegs. Als wir in Liegnitz ankamen, hieß es, alles aussteigen, weiter in Richtung Osten waren die Schienen zerstört. So mussten wir zu Fuß weiter. Der Bahnhof war fürchterlich, alle Abflussrohre geplatzt, die Unterführung zum Ausgang stand knöcheltief voll mit Exkrementen und alle Leute mussten dadurch laufen. Es regnete und so hatten wir eine Möglichkeit, uns notdürftig zu reinigen. Der Gestank war unerträglich. Vor dem Bahnhof fanden wir einen alten Pferdewagen. Alle Familien aus Frauenwaldau luden ihr Gepäck auf und wir zogen und schoben diesen schweren Wagen in Richtung Heimat. Das Ehepaar Kruppe, beide zirka 80 Jahre alt, blieb einfach am Strassenrand sitzen, sie konnten und wollten nicht mehr. Später hörten wir, sie ist dort verstorben, er hat es aber noch geschafft, bis nach Frauenwaldau zu kommen, wie, weiß ich nicht. Nach 66 km, laut Strassenschildern, kamen wir in das Dorf Wilschkau (Wichrow).

Unser Opa und auch Opa Frenzel waren sehr krank. Da nahmen wir unser und Familie Frenzels Gepäck vom Wagen und die anderen fuhren weiter. Wir suchten uns ein leer stehendes Haus, in dem wir ein paar Tage bleiben wollten, bis es den Opas wieder besser ging. Alle Häuser hatten weder Fenster noch Türen. Zum Glück war es nicht mehr so kalt, aber in dem Dorf war eine russische Kommandantur, wir haben tausend Ängste ausgestanden, aber wir konnten nicht weiter mit den Kranken und sind geblieben.

Frenzels waren 5 Personen, Frau Frenzel, drei Mädchen in unserem Alter und der Opa. Wir Kinder sind sofort los, um etwas Essbares zu suchen. Die Tage mit dem Pferdewagen gab es nur das, was am Strassenrand zu finden war, Sauerampfer oder ähnliches oder Kartoffeln, die schon jemand gesteckt hatte, gruben wir wieder aus. In Wilschkau gab es eine Gärtnerei mit vielen Gewächshäusern voller Tomaten. Da es schon Ende Juni war, waren einige schon reif. Kartoffeln waren noch im Keller des Hauses, in dem wir uns niedergelassen haben. Zum Frühstück gab es Pellkartoffeln, zum Mittagessen Klösse und abends Suppe oder Kartoffelpuffer und alles ohne Salz, aber wir wurden satt. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen, aber das fehlende Salz war ganz schlimm. Wir wurden in dieser Zeit alle krank, aber Opa konnte wieder aufstehen und kochte für uns, so gut es ging. Nach drei Wochen wollten wir weiter. Ich wollte bei den Russen einen Munitionswagen stehlen für unser Gepäck oder wenn einer nicht mehr gehen konnte, aber sie haben mich erwischt. Doch ich konnte ihnen klar machen, wozu wir den brauchten und ich durfte ihn mitnehmen. Sie haben sich krumm gelacht, als ich mit meinen 10 Jahren den schweren Karren weg zog.

Am 25.06.45 hatten wir und Frenzels das Gepäck schon aufgeladen, da fing es an zu regnen. Also blieben wir noch einen Tag länger dort. In der Nacht darauf kamen Zigeuner in das Dorf, ausgerechnet in unserem Garten ließen sie sich nieder. Mitten in der Nacht hörten wir einen lauten Knall und eine Frau schrie jämmerlich. Sie war auf eine Miene getreten und hat dabei ein Bein verloren. Wir hatten 3 Wochen in diesem Garten gespielt. So hatten wir wie so oft einen Schutzengel und auch dass den Frauen nichts geschehen war, zumal die Kommandantur ganz  in der Nähe war. Am 26.06.45 wollten wir nach Osten. 3 km hatten wir schon geschafft, da kam uns ein riesiger Flüchtlingstreck entgegen. Die Polen jagten alle Deutschen, die noch in der Heimat waren oder zurückgekehrt waren, wieder in Richtung Westen.

 

Schlesien wurde nun von den Polen besiedelt, die von den Russen vertrieben worden waren. So mussten auch wir wieder mit dem Treck in Richtung Westen, Opa ist fast verrückt geworden. Nach vielen Tagen auf der Strasse kamen wir wieder in Liegnitz (Legnica) an und wieder regnete es. Unterwegs mussten alle Wagen durch einen großen Park fahren. Fast das ganze Gepäck wurde uns weggenommen, hauptsächlich die Federbetten. Es dauerte viele Stunden bis der ganze Treck durch den Park geschleust war. Tante Agnes hat in der ganzen Zeit die Posten beobachtet und wirklich unter Lebensgefahr die Kopfkissen zurück geholt. Es war zwar Sommer, aber Hansel war ein halbes und Ali zweieinhalb Jahre alt und wir wussten ja nicht, wie lange wir noch so umher ziehen würden. Einige Russen, die wohl in der Nähe stationiert waren, brachten ein paar Eimer Suppe für die Kinder. Wir bekamen auch etwas ab, aber sie war viel zu fett und wir bekamen Durchfall. Die polnischen Posten des Trecks verboten den Russen sofort, den Deutschen etwas zu essen zu geben, als sie es bemerkten. Die Nacht darauf schliefen wir im Wald. Wasser zum Kochen musste 1 km weit geholt werden und das unter Bewachung, damit ja keiner zurück geht.

Am Morgen ging es sehr früh weiter, an dem Park vorbei, der kniehoch mit aufgeschlitzten Betten und Sachen übersät war. Es regnete wieder den ganzen Tag, abends waren wir total durchnässt, konnten aber in einer Scheune übernachten. Es wurde ein Ruhetag eingelegt und wir konnten unsere Sachen etwas trocknen, wir mussten aber aufpassen, dass sie nicht verschwanden. Am nächsten Tag ging es weiter, den ganzen Tag laufen, laufen, laufen, nur eine halbe Stunde Rast. Für die Kinder war es am schlimmsten. Mutter hatte für Hansel 2 Fläschchen gemacht, aber er weinte den ganzen Tag vor Hunger. Tante Agnes suchte am Waldrand immer nach Erdbeeren und schob sie dem armen Kerlchen in den Mund. Nach etlichen Tagen kamen wir in das Dorf Kreibau (Krzywa). Hier mussten alle von der Strasse runter. Wir wurden mit 108 Personen so gegen 22 Uhr im Saal eines Gasthauses untergebracht. Wie wir diese Strapazen ohne Verpflegung und ohne Wasser überstanden haben, weiß ich bis heute nicht. Der Besitzer war sehr ungehalten, wollte niemanden reinlassen, aber die polnische Miliz ließ keine Einwände gelten. Wir waren wieder mal angekommen.

 

 

Kapitel 6

In Kreibau (Krzywa) ging es uns nicht gut, der Bürgermeister wollte uns nicht haben. Die Leute aus Neumarkt fuhren nach 10 Tagen wieder nach Osten, wurden aber wieder zurück gejagt. Wir wollten eigentlich auch mit, aber wir waren alle krank und schafften es nicht, und so blieben wir dort. Die nächste Kirche war 10 km entfernt in Haynau (Chojnów). Das war schade, denn in ihr fanden wir immer wieder Trost.

Unserem Hansel ging es immer schlechter, er hat nur noch gewimmert. Mutter half dem Gastwirt auf dem Feld, Tante Agnes im Haus. Am 23.07.45 verstarb Hansel. Tante Agnes hat um 3:30 Uhr nach ihm gesehen, aber da war er schon für immer eingeschlafen. Mutter ist fast zusammengebrochen und wir waren alle entsetzt und sehr traurig. Nach vielen Bitten bekamen wir eine Kiste für ihn. Am 24.07.45 haben wir ihn beerdigt. Das Grab hat Opa ausgehoben. Tante Agnes und Frau Frenzel trugen ihn abwechselt zum Friedhof. Opa sagte, er wird wohl auch bald hinterher gehen. Wir waren alle sehr erschüttert, es war der erste Todesfall in unserer Familie.

Den Sommer über blieben wir in Kreibau. Hier gab es eine Kochkäsefabrik, die total verwüstet war, aber aus einem Haufen Stroh konnten wir ein paar Pfund Käsepulver ausbuddeln. Das Pulver konnte man mit Milch aufkochen, sofern man welche hatte, und das gab Kochkäse. Doch meistens fehlte uns die Milch. Die Russen im Dorf hatten eine große Herde Kühe, die waren hellgrau und hatten riesige Hörner, etwa 2,50 m Ausladung. So was hatten wir noch nie gesehen. Die Frauen aus dem Dorf und auch unsere Mutter gingen jeden Tag zum melken. Wir hatten immer Angst um sie, aber es gab einen Liter Milch dafür. Im nahe gelegenen Wald gab es auch viele und sehr große Heidelbeeren. Die Sträucher waren etwa 80 cm hoch und die Beeren so groß wie Sauerkirschen. Wir haben Unmengen geholt, was wir nicht aufessen konnten haben wir getrocknet. Einkochen war nicht möglich, wir wollten ja weiter und wie sollten wir die Gläser transportieren.

In dem Wald gab es auch Unmengen von Steinpilzen. Wir Kinder sind jeden Tag mit einem Handwagen in den Wald und haben Körbe voll Pilze geholt. Opa saß wochenlang im Hof putzte und schnitt die Pilze, die dann in der Sonne getrocknet wurden. Das war unser Fleischersatz für die nächsten Jahre. Wir haben auch viel Ähren auf den Feldern gelesen, die Körner heraus gerebelt, getrocknet und auf der Kaffeemühle gemahlen. So haben wir uns einen Vorrat an Schrot angelegt. Da wir schon wochenlang kein Salz hatten, nahmen wir Viehsalz zum Kochen. Die Folge davon war, wir hatten alle einen entzündeten Mund. Die Mahlzeiten wurden so zur Quälerei.

Am Herz-Jesu-Sonntag ging Tante Agnes über 10 km nach Haynau in die Kirche. Sie hatte große Angst, denn auf der Strasse waren viele Militärautos mit Russen unterwegs. Abends kam sie völlig durchnässt und erschöpft heim, aber ihr war zum Glück nichts passiert. In Kreibau war es einigermaßen ruhig, denn es lag abseits der Straße. Hinter dem Wald, in dem wir die Pilze holten, lag ein Dorf, dessen Bewohner erst im August erfahren hatten, dass der Krieg zu Ende ist. Wurde im Dorf mal ein Rind von den Russen geschlachtet, bekamen die Ortsansässigen etwas Fleisch, die Flüchtlinge durften sich das Darmfett aus dem Abfall holen. Vom 28.06.45 bis 04.09.45 lebten wie in Kreibau, dann schickte uns der Bürgermeister weg, weil er uns im Winter nicht versorgen konnte oder wollte. Wir wollten wieder in Richtung Heimat, aber wir haben nur 10 km bis nach Haynau geschafft. Opa hatte wieder ganz geschwollene Beine, er hätte auf dem Handwagen sitzen müssen, aber das war dann für uns zu schwer zum Ziehen. Wir kamen nur bis zum Pfarrhaus, da verließ uns die Kraft und der Mut. Der Herr Pfarrer hat uns erst mal etwas zu essen und zu trinken gegeben und hat uns eindringlich von einer Weiterfahrt abgeraten. Die Polen würden uns sofort wieder zurück schicken und wir sollten uns lieber in einem Dorf eine Bleibe für den Winter suchen. Nach zwei Tagen sind wir dann in ein kleines Dorf abseits der Hauptstrasse gezogen. Es hieß Hermsdorf (Jerzmanowica) und in dem Dorf wohnten noch zwei deutsche Familien, sonst war das ganze Dorf leer.

Wir suchten uns ein Haus, in dem wir genug Platz hatten, denn Frau Fenzel mit ihrem Vater und drei Töchtern war noch bei uns, wir waren also 12 Personen mit zwei Handwägen. Opa war ganz verzweifelt, es war der 06.09.45, es war sein Geburtstag und wir waren immer noch nicht daheim. Schon in der zweiten Nacht in diesem Haus hatten wir russischen Besuch und wir hatten eine Heidenangst. Sie blieben aber die ganze Nacht in der angrenzenden Scheune und haben viel getrunken, aber sie ließen uns in Ruhe. Gleich am ersten Sonntag musste Tante Agnes mit den Russen aufs Feld Kartoffeln auflesen. Frau Frenzel musste auch mit, unsere Mutter hielt sich versteckt, so glaubten die Russen es wären nur zwei Frauen im Haus. Am 07.10.45 kam eine polnische Familie, besah sich das Haus und sagte, sie kommen am 08.10.45 mit ihren Sachen, bis dahin müssten wie raus sein, sonst rufen sie die Miliz. Sie waren aber dann doch so nett und ließen und bis zum 11.10.45 da wohnen, damit wir uns erst etwas anderes suchen und her richten konnten.    

 

Kapitel 7

Unser Haus, was wir uns ausgesucht hatten, war ein Zweifamilienhaus mit je vier Zimmern in jeder Etage. Die untere Wohnung haben wir mit Scheunentoren verbarrikadiert, dass man von der unteren Wohnung nicht in den Flur und zur Treppe kam, die Haustür haben wir ebenfalls mit einem Tor von innen verstellt und verkeilt, und so fühlten wir uns einigermaßen sicher. Wir hatten eine Küche und ein Schlafzimmer, Frenzels ebenfalls. Jetzt hatten wir viel zu tun, es musste für Brandmaterial gesorgt werden und Kartoffeln mussten wir auch noch stoppeln, der Winter stand ja vor der Tür. Ein paar Karotten fanden wir auch noch. Am 13.10.45 wurde unser Opa krank, er legte sich hin und es wurde immer schlechter mit ihm. Am 20.10.45 kam der Herr Pfarrer und gab ihm die Sterbesakramente. Kurz darauf brachen nachts zwei Russen bei uns ein. Das schmale Flurfenster hatten wir nicht richtig verbarrikadiert, sondern nur vernagelt. Wir haben nie Licht angemacht, es gab ja keinen Strom und Kerzen hatten wir ja auch nicht, aber sie hatten bemerkt, dass dieses Haus bewohnt ist. Mutter hat sich zwischen uns Kindern im Bett versteckt, Tante Agnes bei Opa im Bett. Sie nahmen unsere ganzen Anziehsachen mit und bei Frenzels war es genau so. Zum Glück taten sie den Frauen nichts. Jetzt mussten wir auch noch in leer stehenden Häusern nach Anziehsachen suchen. Am 30.10.45, am Geburtstag von Tante Maria, gingen Tante Agnes und ich nach Haynau zur Kirche, am Tag darauf ging Mutter mit Susi und Bärbel zum Grab von Hansel.

Vier Wochen später kamen wieder zwei Russen, diesmal bei Tage. Sie fanden bei uns nichts mehr, aber bei Frenzels nahmen sie die letzten 3000 Mark mit, die sie noch hatten. Am 02.12.45 erhielten wir die erste Post. Mit der Post, das war so eine Sache für sich. Der Pfarrer schickte unsere Post ab, da wir ja keine Zlotis für Briefmarken hatten. Die Post kam auch wieder ans Pfarramt, denn in Hermsdorf kam keine Post an. Wir hatten an Tante Marie in Frankenstein geschrieben, die dort in einem Kloster war. Sie war nicht mehr dort, aber eine andere Schwester hat die Briefe geöffnet und teilte uns mit, dass Tante Anna auch dorthin geschrieben hat und zwar aus Frauenwaldau. So erfuhren wir, dass Stoppocks in Frauenwaldau sind. Am 06.12.45 schrieb Tante Agnes den ersten Brief an Tante Anna. Am 09.12.45 ging es Opa wieder schlechter, er glaubte, es sei Heilig Abend und wollte nur noch heim zu seinem Vieh. Am13.12.45 waren Mutter, Bärbel und ich in der Kirche, als wir heim kamen, lag Opa im Sterben. Er sprach nicht mehr viel und bekam kaum noch Luft. Er hatte schon öfters die Sterbekerze und Weihwasser verlangt, doch dieses mal gar nichts und es ging dann doch sehr schnell. Wir hatten keine Uhr, aber er muss so gegen 22.00 Uhr für immer eingeschlafen sein. Wir waren alle bei ihm. Mit viel Betteln und Lauferei konnten wir ihn beerdigen. Einen Sarg (Kiste) ließen wir für ihn machen. Bretter hat Tante Agnes aus einem leer stehenden Gutshof geholt, Nägel hat sie in einer Scheune heraus gezogen. Einen alten Polen haben wir so lange angebettelt, bis er uns den Sarg zusammengenagelt hat. Im Sarg sah Opa so eingefallen aus, da habe ich mir geschworen, nie wieder fasse ich einen Toten an. Tante Agnes hat oft nach Haynau laufen müssen und alles musste heimlich geschehen, sonst wären die Russen wieder da, denn in dem Dorf war eine Kommandantur und wie sollte der Sarg nach Haynau? Ein Pole sagte uns, wenn wir Futter für sein Pferd besorgen fährt er uns den Sarg dahin. Wir haben kleine Kartoffeln und Schalen gesammelt und in einer Scheune ein Sack Heu gerupft, so konnten wir den Mann bezahlen. Für den Mann, der den Sarg gemacht hat, mussten wir auch noch Kartoffeln stoppeln. So traurig das alles war, so froh waren wir, dass Opa wenigsten ein richtiges Begräbnis hatte.

 

24.12.45, Weihnachen. Nach Geschenken hat keiner gefragt, unsere Gedanken waren bei unserem Vater, bei den Verstorbenen und in der Heimat. Zu essen hatten wir nur Kartoffeln, aber wir wurden satt, denn in der Woche vor Weihnachten haben wir noch  6 Ztr. Kartoffeln gestoppelt und am Heilig Abend nochmals 3 Ztr., denn das Wetter war noch offen. Wir haben die Karotten und Kartoffeln in einem Schuppen in die Erde eingegraben, aber als wir im Winter welche rausholen wollten, stellten wir fest, dass die Miete geplündert worden war. Da muss uns jemand beobachtet haben und für uns hieß es wieder hungern. Am 11.01.46 war Bärbels am 14.01.46 Alis Geburtstag, aber das war noch schlimmer als im Vorjahr, da wir kaum noch etwas zu essen hatten. Am 19.02.46, an Susis Geburtstag, gingen wir wieder aufs Feld, um Kartoffeln in Strohschobern zu suchen, aber wir haben kaum etwas gefunden. Am 21.01.46 hat nachts wieder jemand an die Haustür geklopft, aber unsere Burg hielt stand. Am 09.02.46 klopfte es wieder an der Tür, wir hatten eine Heidenangst, aber wir hatten wieder mal Glück. Am 18.03.46, meinem Geburtstag, kam ein Brief von Tante Anna, wir haben uns sehr gefreut. Am 29.03.46 haben wir uns einen Gemüsegarten angelegt. Die Polen, denen wir unsere Kartoffelschalen brachten, gaben uns ein paar Samenkörner. Wir lebten sehr knapp, aber es war fast alles aufgebraucht und wir mussten betteln gehen.

Am 23.03.46 gingen Susi und Bärbel zur ersten heiligen Beichte. Von Mittwoch auf Donnerstag haben die Russen wieder bei uns geklopft, aber seit der Pfarrer bei Opa Frenzel war und unser Haus gesegnet hat ist keiner mehr rein gekommen. Ab Ostersamstag musste Mutter bei den Russen arbeiten. Ostern konnten wir uns durch unsere Bettelei endlich mal wieder richtig satt essen, wir waren recht zufrieden, nur Mutter musste die Feiertage arbeiten. In unserem Garten wächst es schon, aber wer wird es ernten? Der Geburtstag von Tante Agnes war auch sehr traurig, aber wir konnten ihr schon ein paar Blumen schenken. Mutters Geburtstag war auch sehr traurig, aber Blumen bekam sie auch. Wir haben den ganzen Tag von Vater geredet. Am 05.06.46 ging Susi zur ersten heiligen Kommunion. Ein Kleid hat uns der Herr Pfarrer von jemanden geborgt. Es waren 4 Mädchen und 11 Jungen und die Feier war sehr schön. Es gab Klöße, Kartoffelsalat und einen kleinen Kuchen. Wir waren eigentlich zufrieden, haben aber viel von Vater und Daheim gesprochen.

Zwei Tage später kam Post von Tante Anna und sie hat uns auch einen Brief von unserem Vater mitgeschickt. Unsere Freude war unbeschreiblich. Jetzt wussten wir, alles wird gut, Vater lebt, denn seit Sommer 1944 wussten wir ja nicht, ob er in Gefangenschaft oder gefallen ist. Er hatte nach Frauenwaldau geschrieben und die Frau, die die deutsche Post annahm, hat versucht die Briefe an Verwandte oder Bekannte weiter zu geben, so gut es ihr möglich war. Er war nach seiner Entlassung aus der französischen Gefangenschaft in Asmushausen bei Bebra bei einem Bauern geblieben, da er nicht wusste, wo er uns suchen sollte. Dass Schlesien geräumt wurde, hatte er gehört. Bärbel und ich gingen wieder betteln, denn draußen gab es noch nichts zu ernten.

Einmal gingen wir zur russischen Kommandantur, da bin ich aus Versehen mit der Hand an ein Stromkabel gekommen, dass an einem Mast herunter hing. Meine Hand schloss sich sofort um das Kabel und ich konnte nicht mehr loslassen. Ich schrie ganz fürchterlich, habe aber mein eigenes Geschrei nicht gehört, so laut hat es im Kopf geknallt. Das hat mir Bärbel später gesagt, ich habe nur geschrieen: „Hol die Mama, sie soll mir den Arm abhacken.“ Der Strom hat mich immer um den Mast gejagt und irgendwann wurde das Kabel kürzer, ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen und meine Hand ging auf. Ich konnte Bärbel wieder zurückrufen und wir haben uns erst mal hingesetzt und geheult. An der Hand hatte ich keine Brandwunden, aber meine Beine waren ganz steif. Wir gingen weiter zu den Russen und als wir nach 2 Stunden endlich ein Stück Brot bekamen, konnte ich nicht mehr laufen. Wir haben uns ganz langsam geschlichen und als wir nach Stunden ankamen haben wir geschimpft bekommen, weil wir so lange weg waren. Da haben wir von dem, was passiert war, gar nichts erzählt, aber ich hatte lange Zeit Schmerzen.

In Hermsdorf ist öfters etwas passiert und es war kein Arzt in der Nähe. Einmal fiel vom Kleiderschrank eine Tür heraus und Ali hat die Tür mit der Kante auf die Hand gekommen. Die Hand wurde sofort ganz blau und dick, sie war wohl auch gebrochen. Er hat sehr lange starke Schmerzen gehabt, denn wir konnten ja nur kühlen und wickeln. Am 28.06.46 hatten Susi und ich Firmung. Es war auch eine schöne Feier und hat uns viel bedeutet, vor allem in dieser Zeit mal einen Bischof zu sehen. Wir hatten auch satt zu essen, das Betteln hatte etwas eingebracht. Der Herrgott hat uns wieder mal geholfen. Es ist Juli und es hieß wieder einmal, wir müssen weg, aber wohin wusste keiner. Am 20.07.46 waren alle Deutschen aus den umliegenden Dörfern zusammen getrieben worden und warteten auf den Abtransport. Am 21.07.46 sind wir auch zum Sammelplatz. Wir hatten schon alles auf einen Wagen verladen und mussten wieder abladen, wir durften nicht mit, warum hat uns keiner gesagt. Am 22.07.46 wurde auch der deutsche Pfarrer abgeholt und ein polnischer Pfarrer kam nach Haynau. Wir kamen uns sehr verlassen vor, denn er war ein echter Freund für uns gewesen.

Als Bärbel und ich wieder mal zur Kirche gingen, hatte ich erneut Pech. Eine Kutsche mit Polen fuhr auch zur Kirche und wir hängten uns hinten dran. Als der Kutscher uns sah, schlug er mit der Peitsche nach uns. Bärbel sprang ab, aber ich blieb mit dem Fuß hängen. Ich bin auf meinem Hinterteil ein ganzes Stück mitgeschleift worden und der Bast war zwei Handflächen groß ab. Bärbel hat nach und nach ihre ganzen Kleider ausgezogen und damit haben wir die Wunde verbunden, wir haben die ganzen 3 km bis nach hause geheult. Wochenlang habe ich nur auf dem Bauch gelegen und auf Heilung gewartet. Später haben wir bei unserer Bettelei einen alten Mann kennen gelernt, der uns etwas zu essen gab und uns dabei ausgefragt hat. Er sagte, wir sollten doch mal die Mutter oder die Tante mitbringen. Tante Agnes ist dann auch mal mitgegangen und er hat uns überredet, zu ihm in das 2 km entfernte Wittchendorf zu ziehen. Er wohnte in einem Leutehaus mit acht Wohnungen, drei waren schon leer. In Hermsdorf waren wir noch die einzige deutsche Familie, Frenzels waren damals bei dem Transport mit weggekommen. Wir hatten zwar einen netten Russen kennen gelernt, er bewachte ein Krautfeld  und er gab uns öfter Kraut und Brot, aber sonst hielt uns nichts mehr dort, zumal die Polen jetzt Miete von uns verlangten und wir sowieso kein Geld hatten. Am 30.10.46 zogen wir zu Onkel Josef nach Wittchendorf (Witkow).

 

Kapitel 8

Wir zogen in den ersten Stock einer Wohnung neben Onkel Josefs Wohnung. Die unteren Zimmer wurden wieder verbarrikadiert, damit wir einigermaßen sicher waren. Wir hatten Angst, unten zu wohnen. Onkel Josef war ein schwer behinderter Mann, er hatte in der Landwirtschaft gearbeitet und ihm wurden beide Beine gequetscht. Dadurch konnte er ganz schlecht laufen. Wir haben viel von ihm gelernt, er hat Schuhe und Uhren repariert. Bei den Uhren konnten wir ihm oft helfen, wenn er mit seinen Fingern nicht zurecht kam. Wir lernten auch Schuhe flicken und besohlen. Wir haben Birken im Wald geholt, gesägt, gespalten und Holznägel daraus geschnitzt zum Besohlen der Schuhe. Beim durchstöbern leerer Häuser haben wir immer nach Wachstuch aus zurück gelassenen Kinderwägen gesucht. Daraus haben wir Schuhe mit geflochtenen Strohseilen gemacht. Für 5 Pfund konnten wir sie im Krankenhaus in Haynau eintauschen. Unser Nachbar hat aus Holz Schuhsohlen geschnitzt, wir haben Schuhe mit gut erhaltenen Oberteilen gesucht und diese auf die Holzsohlen genagelt. Das brachte immer ein paar Zloti ein.

 

Onkel Josef hatte in seiner riesigen Küche einen Sägemehlofen, da hatten wir es immer schön warm. Jeden Morgen holten wir Kinder drei große Säcke Sägemehl aus einer 3 km entfernten Scheune. Am 19.11.46 gegen Abend hieß es, morgen früh um 7.00 Uhr müssten wieder alle Deutschen auf dem Sammelplatz sein.

Da wurde wieder die ganze Nacht gepackt, und das um diese Jahreszeit. Gegen Mittag fuhren uns die Polen mit den Pferdewagen nach Haynau. Unterwegs wurde die Hälfte unserer Sachen vom Wagen geworfen und musste liegen bleiben. Onkel Josef und Tante Agnes mussten da bleiben, denn sie hatten polnische Namen, er hieß Smiatek, sie Latoschinski. Tante Agnes kam aber doch heimlich mit. Ein Stück weiter wurde wieder Gepäck runter geworfen, doch dieses mal hatten wir Glück, unseres war nicht dabei. In Haynau durften wir in leer stehenden Häusern übernachten, das Gepäck blieb auf den Wagen. Am Morgen fehlte wieder ein Sack von uns. Ich hatte mir eine kleine Kiste mit Nippes gesammelt, die war auch weg. Nun hieß es wieder zurück nach Wittchendorf, die Strassen sind verstopft. Das war nur alles eine Schikane, damit die Polen die Wohnungen ausräumen konnten. Unsere Vorräte waren aber bei Onkel Josef.

Um die Weihnachtszeit wurde es so kalt, uns gefror nachts die Bettdecke am Kinn an. Da hat uns Onkel Josef zu sich in die große Küche geholt. Es wurde ein großes Bett in der Küche aufgestellt und darin haben wir zu sechst geschlafen, es war sehr eng, aber warm. Das war für uns sehr schön, morgens wenn wir aufstanden war es warm und das Frühstück war auch schon gemacht. Es wurde wieder eine traurige Weihnacht und die darauf folgenden Geburtstage ebenso.

Am 19.02.47 wurde ich von der Miliz geholt und musste zu einer polnischen Familie in den Haushalt, die polnische Miliz war sehr streng, da hat keiner widersprochen. Dort musste ich im Haushalt helfen, die Kinder versorgen, im Stall helfen und später die Kühe hüten. Mich überläuft es heute noch eiskalt, wenn ich daran denke, dass ich als Zehnjährige zwei Kühe und einen Bullen am Strick halten musste. Ich bekam 80 Zloti im Monat, soviel kostete auch ein Brot, aber ich hatte zu essen. Und immer wieder hieß es, wir müssen raus. Mutter musste zwei Dörfer weiter bei einem Bauern arbeiten, aber sie durfte die Kleinen mitnehmen. Ich lernte schnell und gut polnisch und durch meine Arbeit konnten wir auch wieder an Tante Anna schreiben. Kurz darauf schrieb uns eine Nachbarin, die polnisch geworden war, dass Stoppocks ausgewiesen wurden. Tante Agnes größter Wunsch war, noch einmal ihr Elternhaus zu sehen. Wir hatten durch Onkel Josefs und unsere Arbeit so viel Zlotis verdient, dass wir das Fahrgeld für Sie und Onkel Josef zusammen hatten. Onkel Josef sprach perfekt polnisch und Tante Agnes stellte sich stumm und so ging die Fahrt glatt, aber wir hatten große Angst, ob wir sie je wieder sehen würden. Tante Agnes war total fertig und sehr erschüttert. Tante Anna war ja schon weg, aber der Hof von ihnen sah fürchterlich aus. Das Haus war ganz ausgeplündert, die Ställe waren alle leer. Die Felder hatten Tante Anna und Onkel Bernhard noch bestellt, aber ernten konnten sie nicht mehr und wir mussten zusehen, wie wir satt wurden. Bei einer uns gut bekannten Familie in Frauenwaldau, die auch polnisch geworden waren, stand ein großer Wäschekorb mit der Aussteuer von Tante Agnes, niemand hatte mit ihrer Rückkehr gerechnet. Tante Agnes nahm etwas Bettwäsche und ein Federbett mit, der Rest blieb dort.

 

Auf der Rückfahrt wurde Tante Agnes sehr krank und es wurde so schlimm, dass Onkel Josef dafür sorgte, dass sie in Haynau einen Arzt aufsuchen konnte. Wir brauchten 1000 Zloti für den Arzt und die Apotheke, aber Onkel Josef machte auch das möglich. Später gingen Mutter und Tante Agnes bei Bauern Kartoffeln lesen und bekamen 25 Zloti pro Tag. So konnten wir das geliehene Geld zurück geben. Das Essen waren gestampfte Kartoffeln und darüber Rotebeetesaft. Bärbel fand eine Freundin und machte so ihre ersten bitteren Erfahrungen, denn das Mädchen hat sie beklaut und war auch sonst sehr schlecht. Am 08.08.47 mussten wir Wittchendorf wieder mal verlassen. Dieses mal kam auch Onkel Josef mit, obwohl er und Tante Agnes nicht durften, weil sie polnische Namen hatten, aber wir waren entschlossen, nur zusammen weiter zu ziehen.

Kapitel 9

Unser Gepäck wurde wieder auf polnische Pferdewagen verladen, aber was war das für ein Kampf. Die Miliz warf die Koffer wieder runter, denn da konnten ja noch bessere Sachen verpackt sein können. Die Kutscher taten das Gleiche und jeder versuchte, zu retten was irgend ging. Wer diesen Kampf nicht mit gemacht hat, kann sich nicht vorstellen, was da los war. Wir wurden nach Liegnitz gebracht, wo schon tausende Menschen in einem großen Park zusammengepfercht waren. Wir waren das dritte Mal in Liegnitz und wieder regnete es heftig. Neun Tage in dieser Stadt und jedes mal regnete es. Neun Tage waren wir in diesem Park und jeder saß in dem Regen auf seinem Gepäck. Die Kinder konnten ab und zu in der einzigen offenen Halle schlafen, aber nicht oft, denn alle hatten keinen Platz darin. Jeder hat versucht, ein paar Steine zu finden, damit man das Gepäck aus dem Wasser bekam. Es grenzt an ein Wunder, dass dort nicht noch mehr Menschen starben. Eine einzige Toilette ist dort gebaut worden, so ein Plumpsklo für 50 Personen. Wir durften nie allein dahin gehen denn 4 Kinder waren schon hinein gefallen und umgekommen.

 

Zu essen gab es einmal am Tag einen viertel Hering und zwei Pellkartoffeln, das Wasser mussten wir 1 km weit unter Milizbewachung holen. Neun Tage hatten wir große Angst, weil andauernd ausgerufen wurde, alle Leute mit polnischen Namen sollten sich melden. Bei so einer großen Menschenmenge konnte aber nicht jeder kontrolliert werden und so hofften wir, Tante Agnes und Onkel Josef werden nicht erwischt. Wir hatten wieder mal Glück, der Herrgott hat unser beten erhört, denn das war ja das Einzige, was uns in dieser Situation blieb. Im Zug war wieder Gepäckkontrolle, aber wir hatten alles in alte Säcke gepackt und so kamen wir glimpflich davon. In der Not lernt man so  einiges.

Endlich fuhr der Zug in Richtung Westen und wir hofften, unseren Vater bald wieder zu sehen. Wir kamen in Görlitz über die Grenze nach Deutschland und wurden nach Löbau in ein riesiges Lager gebracht. Ehe wir einen Platz bekamen wurden wir entlaust mussten alles ausziehen, mussten duschen, die Sachen wurden entlaust und desinfiziert. Wir hatten zwar keine Läuse, aber da musste jeder durch. Danach bekamen wir 4 Betten in einer riesigen Halle, das war schon viel Platz für uns, aber da Onkel Josef schwer behindert war, bekam er ein Bett für sich allein. Hier gab es auch drei Mahlzeiten am Tag, 5 gr Butter, 5 gr Zucker und so weiter. Zum ersten mal sprach alles deutsch und ich hatte große Schwierigkeiten mit der Satzstellung, denn ich sprach besser polnisch als deutsch. Das hat sich aber schnell geändert. Onkel Josef`s Tochter, die in Klotsche bei Dresden wohnte, kam uns besuchen und gab bei der Heimleitung an, Onkel Josef und Tante Agnes könnten bei ihr wohnen. Für uns hatte sie leider keinen Platz, denn sie hatte nur eine kleine Wohnung. Wir kamen nach 3 Wochen nach Arnsdorf in einen 4 Familienblock. Wir waren wieder einmal angekommen.

Kapitel 10                                                                                                                                                                                                  In Arnsdorf wurden uns in einem Viererblock in einer Siedlung zwei Dachkammern zugewiesen. Jeder Mieter in diesem Haus hatte so eine Kammer und diese wurden für die Flüchtlinge geräumt. Wir bekamen von den Mietern 2 Betten einen Tisch und 3 Stühle, mehr passte nicht in die Kammern. Den Ofen bekamen wir von der Gemeinde. Es war ein Gurkeneimer, oben und unten geschlossen und seitlich ein Rohr. Jeweils ein Topf konnte man darauf kochen und so gab es immer nur Suppe. Die Feuerung war so klein dass nur Holz in der Größe einer Zigarettenschachtel hinein gesteckt werden konnten.

 

Hier gingen wir auch wieder zur Schule, Bärbel und Susi in die erste, ich in die vierte Klasse, da war ich 12, Susi 10 und Bärbel 8 Jahre alt. Tante Agnes und Onkel Josef konnten wir oft besuchen, es waren zum Glück nur drei Stationen mit der Bahn, denn sie fehlten uns sehr. Das Schönste war die Badewanne bei Tante Selma, Onkel Josef´s Tochter. Das haben wir jedes Mal richtig genossen, wenn wir dort waren. Nun konnten wir auch den Briefwechsel mit Vater wieder aufnehmen. Über viele Umwege haben wir auch erfahren, dass Tante Marie, Mutters älteste Schwester, noch in Augsburg und Tante Anna in Halle wohnt. Im September fuhr Tante Agnes und Onkel Josef zu Tante Anna nach Halle. Onkel Josef fuhr nach ein paar Tagen zu seiner zweiten Tochter nach Landgrafroda, Tante Agnes blieb noch 5 Wochen in Halle. Auch dort hieß es wieder Kartoffeln, Rüben und Karotten stoppeln. Unser Cousin Josef hatte in der Zeit Firmung.

Am 22.12.47 kam Tante Agnes wieder und blieb über Weihnachten bei uns. Jetzt fuhr Mutter mit Susi nach Halle. Vater schrieb uns, wir könnten zu ihm kommen, er hat in Asmushausen eine Wohnung gefunden, aber die Behördengänge dauerten zu lange. Da wurde die Wohnung an andere Flüchtlinge vergeben. Vater konnte dadurch keine Zuzugsgenehmigung für uns bekommen. Ohne der Genehmigung durften wir aber nicht ausreisen, die Zonengrenze lag dazwischen. Daraufhin suchte sich unser Vater eine Arbeit auf Gut Fassdorf bei Ronshausen, denn dort konnte er auch eine Wohnung bekommen. Vorher kam er uns aber erst mal besuchen. Eine Woche lang gingen Bärbel und ich zu jedem Zug, damit er uns auch findet, aber er kam nicht. Bärbel und ich schliefen derweil bei Frau Döberitz, von der wir die eine Kammer hatten, sonst hätte sie noch ein Zimmer in ihrer Wohnung an Flüchtlinge abgeben müssen. Ein paar Tage später klingelte es nachts um 24.00 Uhr bei Frau Döberitz und ich wusste sofort, das kann nur Papa sein. Vor Freude bin ich fast die Treppe runter gestürzt, ich kam gar nicht schnell genug an die Haustür.

Unsere Freude war unbeschreiblich, in dieser Nacht haben wir nicht mehr geschlafen. Vater war so fertig, denn er musste unser Haus ja im Dunklen suchen und er hatte große Angst, dass man ihn festnimmt in der Nacht. Es waren schöne Tage, aber Vater musste bald wieder zurück, denn er musste ja die Zuzugsgenehmigung für uns besorgen. Es wurde Ostern 1948 und die Kartoffeln, die bis zum Herbst reichen sollten, wurden knapp. In dieser Zeit saßen wir jede freie Minute im Rinnstein und sammelten die Kerne von den Lindenblüten. Die Kerne waren sehr fetthaltig, und wenn man den ganzen Tag daran knabberte, war der Hunger nicht mehr so groß. Es gab ja immer noch alles auf Marken und das war wenig genug. In der Schule ging es ganz gut. Aber wir wurden ständig ausgelacht, weil wir so ärmliche Kleidung hatten und Schürzen trugen.

Im April kam endlich die Zuzugsgenehmigung. Unsere Vorräte waren fast aufgebraucht. Tante Agnes und Onkel Josef wollten mit in die amerikanische Zone aber aus dem Lager in Eisenach wurden sie wieder zurück geschickt. Wir blieben  3 Wochen in Eisenach, aber genau an dem Tag, als wir im Lager ankamen, wurde die Grenzen dicht gemacht. Wir wurden als erstes wieder einmal entlaust, obwohl wir gar keine Läuse hatten. Wir bekamen wieder nur zwei Betten, denn das Lager war völlig überfüllt. Man wollte uns das Fahrgeld geben, damit wir  wieder nach Arnsdorf zurück fahren. Mutter wollte eigentlich aufgeben und wieder zurückfahren, aber wir hatten ja überhaupt keine Vorräte mehr. Bärbel und ich wir wollten uns allein auf den Weg zu Vater machen und zwar schwarz über die Grenze. Ich habe mich überall umgehört, wie man das anstellen muß und ein alter Mann in Eisenach sagte mir, wir müssten bis nach Dorndorf fahren und von dort 5 km bis nach Vacha laufen. Da sind wir, anstatt nach Arnsdorf,  nach Dorndorf gefahren, etwa 5 km vor Vacha, dort war die Grenze zur amerikanischen Zone. Als wir in Dorndorf ankamen war es fast dunkel und nette Leute haben uns auf dem Fußboden in der Küche übernachten lassen. Anderntags sind wir zu Fuß nach Vacha direkt an den Schlagbaum gegangen und sagten dem Zöllner, wir möchten über die Grenze. Der hat uns erst mal ausgelacht und gleich mitgenommen in das örtliche Gefängnis. Wir waren an diesem Tag die ersten, aber bis zum Abend war das Gefängnis voll mit Grenzgängern, die im Westen zum Hamstern waren.

So gegen 23.00 Uhr wurden wir hinaus gerufen und die Zöllner sagten uns, sie würden uns bis an die Grenze bringen. So geschah es dann auch und die Leute im Dorf riefen hinter uns her: „Jetzt bringen die Zöllner schon die Leute selbst über die Grenze.“ Wir hatten schreckliche Angst, denn die Zöllner sagten uns, drüben würden wir wahrscheinlich von amerikanischen Soldaten angehalten. Wir sollten keinesfalls weglaufen, sondern unsere Papiere zeigen, da würden sie uns nicht zurück schicken. Kaum 50 m hinter der Grenze wurden wir schon angehalten, natürlich von zwei farbigen Amerikanern. Wir konnten kaum reden vor Angst. Sie ließen uns Gott sei Dank durch und zeigten uns die Lichter vom Bahnhof Philippsthal, dorthin sollten wir gehen. Wir hatten nur soviel Gepäck, wie wir tragen konnten, aber wir brauchten Stunden bis wir dort ankamen. Wir waren total erschöpft, konnten aber nicht schlafen, weil wir Angst hatten, es könnte immer noch etwas passieren. Am Morgen fuhren wir mit dem ersten Zug nach Bebra und mittags nach Ronshausen.

 

Da wir hungrig und durstig waren, wir hatten den ganzen Tag nichts gegessen, kaufte uns Mutter für jeden eine Banane und ein dunkles Bier. Beides war eine große Enttäuschung, den Bananengeschmack hatte ich ganz anders in Erinnerung und das Bier hat nur nach dem Bebrittbecher geschmeckt. Die letzte Banane bekam ich Anfang des Krieges mit den Worten: „Es wird die letzte sein für lange Zeit.“ Im Zug nach Ronshausen ließ die Anspannung nach und wir sind im Stehen eingeschlafen. Vom Bahnhof Ronshausen mussten wir noch 2 km laufen und hatten wieder einmal Pech. Etwa 500 m vor uns fuhr der Milchwagen, er hätte uns mitnehmen können, aber er sah uns nicht und wir wussten nicht, dass er nach Fassdorf fuhr. Am 22.04.48 trafen wir in Fassdorf ein. Unsere Freude war riesengroß, als wir endlich unseren Vater wieder hatten und auch zusammenbleiben konnten.

 

Nach drei Jahren, drei Monaten, zwei Tagen und fast 1700 Kilometern waren wir endlich  angekommen.

 

Für meine Kinder und Enkel

Rotenburg / Fulda, den 01.05.2010

 

Meine Mutter Martha Kahla (Kahla-Oma)

 

Mein Vater August Kahla (Kahla-Opa)

 

Susi, Bärbel und ich 1939

 

Mein Opa Heinrich Latoschinsky und ich 1939

 

Meine Oma Anna Kahla

 

Hochzeit von Mutter und Vater 1933

 

Tante Agnes

 

Tante Marie

 

Tante Anna

 

 

Tante Hedwig

 

Tante Hedwigs Haus 1980

 

 

 

 

Opa und Tante Agnes mit Susi, mir und Bärbel 1944

 

Die vier Kahlas in Fassdorf, aber das ist eine andere Geschichte....

 

 

Wer zu Frau Gliem Kontakt aufnehmen möchte, kann das unter folgender E-Mailadresse tun:

maria.gliem(ätt)arcor.de

 

Liebe Frau Gliem, ich danke Ihnen herzlich für diesen Bericht!

                                                                                                                                                                                                                       


                                                                                                                                                                                                                       


 

 


 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

                 

                                                                                                                                                             

 

 

 

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